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Der Halbbruder

Roman

Erschienen am 25.08.2005
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783442729258
Sprache: Deutsch
Umfang: 767 S.
Format (T/L/B): 4 x 18.7 x 11.9 cm
Einband: kartoniertes Buch

Beschreibung

Der junge Barnum wird in eine Welt hineingeboren, die von Frauen geprägt ist und von alten Familiengeheimnissen. Sein Leben wird immer wieder überschattet von seinem Halbbruder Fred. Bis dieser eines Tages spurlos verschwindet und damit das Leben aller unwiderruflich in neue Bahnen lenkt.

Autorenportrait

Lars Saabye Christensen, 1953 in Oslo geboren, ist einer der bedeutendsten norwegischen Autoren der Gegenwart. Seine Bücher sind in 36 Sprachen übersetzt und wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Nordischen Literaturpreis, mehrmals mit dem Norwegischen Kritikerpreis, dem Preis des Norwegischen Buchhandels sowie dem Preis des Norwegischen Verlegerverbandes.

Leseprobe

Ich stand auf Zehenspitzen, streckte den Arm so weit nach vorne, wie ich konnte, und bekam von Esther das Wechselgeld zurück, fünfundzwanzig Öre auf eine Krone. Sie beugte sich durch die enge Luke und legte ihre schrumplige Hand auf meine goldenen Locken, ließ sie dort eine Weile liegen, nicht, dass ich das sonderlich mochte, aber es war ja nicht das erste Mal, so langsam gewöhnte ich mich daran. Fred hatte mir schon lange den Rücken gekehrt, die Tüte mit dem Kandiszucker in die Tasche gestopft, und ich konnte an der Art, wie er ging, sehen, dass er aus irgendeinem Grund wütend war. Fred war wütend, und das war beunruhigend, ziemlich beunruhigend. Er schurrte mit seinen Schuhen über den Boden und schien sich seinen Weg zu bahnen, sein Kopf lag tief zwischen den hohen, spitzen Schultern, es war, als kämpfte er mit starkem Gegenwind und müsste alle Kräfte mobilisieren, aber es war nur ein ruhiger Nachmittag im Mai, ein Samstag war es außerdem, und der Himmel über Marienlyst war glänzend blau und rollte langsam wie ein riesiges Rad auf die Wälder hinter der Stadt zu. 'Hat Fred wieder angefangen zu sprechen?', flüsterte Esther. Ich nickte. 'Was hat er gesagt?' 'Nichts.' Esther lachte verlegen. 'Lauf schnell hinter deinem Bruder her. Damit er nicht alles aufisst.' Sie zog ihre Hand aus meinem Haar und schnupperte einen Augenblick lang daran, während ich mich beeilte, um Fred einzuholen, und genau daran erinnere ich mich, das ist der Muskel des Gedächtnisses, nicht die gelben Finger der alten Dame in meinen Locken, sondern wie ich schnell hinter Fred, meinem Halbbruder, herlaufe und es fast unmöglich ist, ihn einzuholen. Ich bin der kleine, kleine Bruder, und ich möchte nur wissen, warum er so wütend ist, ich fühle, wie es pocht in meiner Brust, und spüre einen warmen, scharfen Dunst im Mund, denn möglicherweise habe ich mir auf die Zunge gebissen, während ich auf die Straße gelaufen bin. Ich balle die Faust um das Wechselgeld, die warmen Münzen, und ich laufe hinter Fred her, hinter dieser schmalen dunklen Gestalt in all dem Licht um uns herum. Die Uhr hinten beim NRK, beim Norwegischen Rundfunk, zeigt acht nach drei, und Fred hat sich schon auf die Bank bei den Büschen gesetzt. Ich spurte so schnell ich kann über den Kirkevei, es herrscht so gut wie kein Verkehr, denn es ist Samstag, nur ein Leichenwagen fährt vorbei, und plötzlich hat er mitten auf der Kreuzung eine Panne, der Fahrer kommt heraus in seiner hellgrauen Uniform, und er schlägt fluchend ununterbrochen auf die Motorhaube, und in dem Wagen, in dem lang gestreckten Kofferraum hinter den Sitzen, da steht ein weißer Sarg, aber der ist bestimmt leer, es will doch wohl niemand an einem Samstagnachmittag beerdigt werden, die Totengräber haben jetzt sicher frei, und wenn doch jemand drinnen liegt, dann macht das gewiss auch nichts, denn die Toten müssen viel Zeit haben, so denke ich, ich denke so, damit ich etwas zu denken habe, und der graue Fahrer mit seinen schwarzen Handschuhen schafft es endlich, wieder den Wagen zu starten, und verschwindet Richtung Majorstuen. Ich atme ganz tief den schweren Geruch von Abgasen und Benzin ein und laufe übers Gras, an den kleinen Fußgängerüberwegen, Ampeln und Fußwegen vorbei, die es dazwischen gibt, wie eine Stadt für Zwerge, wo wir einmal im Jahr hin befördert werden, um von großen Polizeibeamten in Uniformen mit strammen, breiten Gürteln die Verkehrsregeln zu lernen. Genau dort, in dieser kleinen Stadt, geschah es, dass ich aufhörte zu wachsen. Fred sitzt auf der Bank und schaut nicht zu mir, sondern ganz woanders hin. Ich setze mich neben ihn, und hier gibt es nur uns beide, an diesem Samstagnachmittag im Mai. Fred schiebt sich einen scharfen Kandisklumpen in den Mund und saugt lange daran, es gurgelt in seinem Gesicht, ich kann sehen, wie die braune Spucke langsam von seinen Lippen tropft. Seine Augen sind dunkel, fast schwarz, und sie schielen, seine Augen schielen. Ich habe das früher schon mal an ihm gesehen. Er schweigt. Die T Leseprobe